Digitale Auftritte brauchen Passion.

Texte zum Leben erwecken

Die digitalen Konferenzen boomen, Webinare sind ausgebucht, der Austausch auf den digitalen Kanälen ist – Covid-bedingt – rege. Rednerinnen und Redner präsentieren sich und ihre Ideen – doch was bleibt? Nicht immer viel. Manche sind sich nicht bewusst, dass beim digitalen Auftreten ganz neue Regeln gelten. Weiterbildung ist vonnöten.

Neun Uhr, die digitale Konferenz beginnt. Ein Slide wird eingeblendet mit den Programmpunkten des Tages. Dann ein Räuspern, der Moderator kündigt den ersten Redner an. Schnitt. Experte John H. erscheint gross im Bild. In Anzug und Krawatte steht er am Rednerpult. John blickt kurz in die Kamera, begrüsst, dankt für die tolle Möglichkeit, dass er bei dieser Konferenz auftreten darf. Es folgt der Blick aufs Manuskript. John kündigt eine Powerpoint-Präsentation an. Und sogleich lässt ihn der Streamingdienst zur klitzekleinen Briefmarke werden. Sein Bild klebt nun an der unteren rechten Ecke meines Bildschirmes. Stattdessen prangt eine mit Bullet-Points vollgestopfte Seite auf meinem Screen. John beginnt etwas vorzulesen. Stammt der Text aus einer Broschüre seines Unternehmens, frage ich mich? Mit wem redet er? John erinnert mich plötzlich an meine Schulzeit. Klangen nicht unsere vorgelesenen Aufsätze damals genauso?

Hybrid - Gebündeltes, Gekreuztes oder Vermischtes

Tagungen und Konferenzen finden heute mehr und mehr – Covid-bedingt – digital statt. Was nicht bedeutet, dass Personen trotzdem real in eigens dafür hergerichteten Studios oder Streaming-Unternehmen auftreten und ihr Auftritt von dort aus live gestreamt wird. John hat sich vermutlich nie über seinen Auftritt Gedanken gemacht. Konnte er mit dem, was er sagte, sein Publikum überzeugen? Was ist seine Kernbotschaft? Was bleibt hängen? Zu wem spricht er? Wie wirkt er? Was bedeutet die Kamera für ihn?

Auftritte vor einer Laptop-Kamera sind gewöhnungsbedürftig. Doch wie funktioniert ein Auftritt in einem (Streaming)-Studio? Vor einer Kamera, weit weg im Raum positioniert? Kein Publikum weit und breit. Gleissendes Scheinwerferlicht im Gesicht. Welche Art von Kommunikation ist hier gefragt? Wie kann ich mein Anliegen in dieser neuen Umgebung überzeugend kommunizieren?

Ein überzeugender Auftritt braucht, was den inhaltlichen Aufbau betrifft, viel Vorarbeit und gute handwerkliche Kenntnisse. Aber auch das jeweilige Setting verlangt eine gezielte Anpassung der Präsentation. Nur wem die Wechselwirkung all dieser Einflüsse bekannt ist, gelingt es, in verschiedenen Rahmen erfolgreich zu präsentieren.  

Eine Präsentation lebt von der Persönlichkeit

Wer einen abstrakten „Broschürentext“ vorliest (oder herunterleiert?) wird niemanden überzeugen. Ein Auftritt lebt in erster Linie von der Person – oder besser: der Persönlichkeit. Graue Mäuse, einschläfernde, geschniegelte Manager, die einen Text ablesen, langweilen nur. Schnell hat man vergessen, was sie mitteilen wollten. Gerade bei digitalen Auftritten müssen Texte zum Leben erweckt werden: Es braucht Beispiele, Farbe, Emotionen, Persönliches, Höhen und Tiefen, Lautes und Leises. Es braucht Passion. Die Botschaft darf nicht monoton vorgelesen werden: sie muss erzählt werden. Wer einen Schulaufsatz aufsagen will, schweigt lieber. Wer seinen Text nicht lebt, überzeugt das Publikum nicht.

Bei einer überzeugenden Präsentation geht das Publikum nach Hause und erzählt das weiter, was in Erinnerung geblieben ist. Und was bleibt? Das Aussergewöhnliche, das Aufregende, das Emotionale, das Persönliche, das Skandalöse, das Extreme, das Hässliche, das Schöne, usw. Bei Präsentationen geht es darum, wenige wichtige Botschaften herauszuschälen und diese attraktiv, mit Blick auf das Gegenüber, und vor allem im Dialog mit ihm, zu vermitteln.

Vor einem Publikum präsentieren zu dürfen, ist eine riesige Chance. Es bedeutet, in zeitlich limitiertem Rahmen einen (oder mehrere) Kerngedanken zu kommunizieren. Dieser Gedanke soll vom Publikum nicht nur verstanden, sondern auch wiedergegeben werden können. Im besten Fall sollte aus diesem Gedanken ein neuer entstehen und vielleicht weiterentwickelt werden. Was wiederum bedeutet: Präsentieren heisst kommunizieren, in Verbindung bleiben, miteinander sprechen.

Hören oder sehen – oder beides?

Während der Redner unverdrossen seinen Text vom Blatt abliest, stellt sich mir die Frage: Soll ich John bei seinem Referat, bzw. Präsentation der Bullet-Points zusehen? Ich versuche es. Ich lese die Bullet-Points, doch gleichzeitig buhlt in meinem Ohr etwas anderes um Aufmerksamkeit: abstrakte Sätze, ein Text, den ich nicht auf Anhieb verstehe. Jemand liest mir etwas vor. Ich versuche, Bild und Ton in Einklang zu bringen. Es gelingt mir nicht. 

Ich verstehe beim besten Willen nicht, um was es bei Johns Referat geht. Ich kann John nicht mehr folgen und beschliesse, die Zeit zu nutzen und parallel noch schnell meine Mails zu checken. 

Don’t talk, be strong...

Ein harter Kerl redet nicht, er macht. Früher brüstete man sich noch damit, dass man eben nicht zum Reden geboren sei, sondern andere Fähigkeiten habe. Manche sagten: Mit geht es nicht um Äusseres, mit geht es um den Inhalt. Doch was bringt es, wenn es dem gescheiten Herrn Professor nicht um Äusseres geht und man seinen Inhalt nicht versteht – weil er ihn herunterleitert und man nur vor sich hingähnt.

Die Art der Präsentation ist genauso wichtig wie der Inhalt. Denn ohne packende Präsentation kommt der Inhalt nicht an. Das gilt vor allem in unserer hektischen Zeit, in der die Aufmerksamkeitsspanne immer kleiner wird. Wer mit seinen Texten das Publikum nicht fesseln kann, wird sich nicht durchsetzen.

Die Zeiten haben sich geändert. Früher konnten sich Führungskräfte in der hintersten Ecke verkrümeln. Rhetorisches Talent war kaum gefragt. Heute macht kaum jemand mehr Karriere, ohne dass er oder sie nicht eloquent äussern und das Publikum für sich einnehmen kann. Kauzigkeit und Redescheu werden heute je länger je mehr zu Stolpersteinen auf der Karriereleiter. 

Ob Live, hybrid oder digital: Präsentieren gehört zum Führungsalltag. Doch viele überschätzen die Wirkung ihres Auftritts ­– genauso, wie sie ihre rhetorischen Fähigkeiten überschätzen. Manche sagen sich: Ich bin seit langem CEO, mich muss man nichts mehr lehren. Und dann sitzen sie in einer Video-Konferenz vor der Kamera ­– und alle langweilen sich und hören nicht zu.

Die Arbeitswelt wandelt sich – die Skills verändern sich

Mit dem Einzug von Automatisation und AI wandelt sich die Arbeitswelt rasant. Und damit auch die Anforderungen. „Die Nachfrage nach technologischen, sozialen und emotionalen sowie höheren kognitiven Fähigkeiten wird bis 2030 steigen. Wie werden sich Arbeitnehmer und Organisationen anpassen?“ fragt die Unternehmensberatung McKinsey in einem ihrer Diskussionspapiere. „Zwischen 2016 und 2030 wird die Nachfrage nach sozialen und emotionalen Fähigkeiten in allen Branchen um mehr als 20 Prozent steigen. Während einige dieser Fähigkeiten, wie z. B. Empathie, angeboren sind, können andere, wie z. B. fortgeschrittene Kommunikation, verbessert werden“.

Was früher belächelt und in Karrierehandbüchern als eher nebensächlich abgetan wurde, wird plötzlich wichtig. Empathie, Kreativität und Kommunikationskompetenz, diese Softskills werden nun als Kernkompetenzen angesehen. Will heissen, dass sich Arbeitnehmende aber auch Personaler und Bildungsinstitutionen zwingend damit befassen müssen. Kommunikationsfähigkeit muss in all ihren Facetten verbessert, geschult und gefördert werden, denn sie wird im künftigen Führungsalltag zu einer Schlüsselkompetenz.

Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen

Dass Empathie nicht unbedingt trainiert werden kann, leuchtet ein. Dass aber in kommunikationstechnischer Hinsicht noch wüstenartige, vorsintflutartige Zustände herrschen, ist bedenklich. Weshalb werden landauf, landab Schülervorträge gehalten, die keinen Nachhall erzeugen, nicht zum Verständnis beitragen, keine Spuren hinterlassen und die Menschen in langanhaltenden Tiefschlaf versetzen?

Auf die Frage an einen der Konferenzteilnehmer, was er von John H.‘s Referat halte, bekam ich zur Antwort: „Keine Ahnung, um was ging‘s da? John H.? Wer war das schon wieder?“

Wer in einer hochkarätigen Fachkonferenz 30 Minuten etwas erzählt, von dem im Nachgang kaum jemand Kenntnis nimmt, hat seinen Auftrag nicht erfüllt. Sein Auftritt war für die Katz. Hier muss in einem Unternehmen die Sensibilität geschärft werden für die „Brisanz“ einer solchen Fehlleistung.

Doch wer wagt es, dieser Führungskraft zu sagen, dass ihr Auftritt nicht überzeugt hat? Wer wagt es, einem CEO zu sagen, dass sein Speech nur peinlich war? Alle denken es, aber niemand getraut es, ihm zu sagen. Man will ja seine Karriere nicht ruinieren. Hier braucht es Mechanismen wie eine gut verankerte Feedbackkultur, die es erlaubt, Präsentationen gegenseitig zu checken. Geschulte Fachpersonen, die die Ingredienzen von überzeugenden Präsentationen kennen und bei Bedarf im Vorfeld Hilfestellungen geben können. Aber auch sensibilisierte Personaler, die Weiterbildung in Sachen Auftrittskompetenz aktiv unterstützen. 

Ich habe noch 1 Minute 30 ...

Meine Mails sind gecheckt, zurück zu John. Er redet noch immer. Da meldet sich plötzlich eine laute Stimme aus dem Off. „Herr H., sie sollten langsam zum Ende ihres Referates kommen, ihre Zeit ist überschritten.“ Herr H. blickt auf, sucht die Kamera, neigt den Kopf leicht nach oben, als lauschte er in den Äther und antwortet mit leicht aggressivem Unterton „Meine Uhr zeigt mir an, dass mir noch exakt 1 Minute 30 Redezeit zur Verfügung steht. Ich erlaube mir, diese auch auszunutzen...“